Von der provokativen Kraft der Bibel
Prof. Heinrich Detering über das Wort in den Wörtern - von P. Manfred Hösl SJ
Worüber man nicht reden kann, muss man erzählen, so Heinrich Detering in einer Abwandlung eines bekannten Zitates von Ludwig Wittgenstein. Als Litereraturwissenschaftler, der sich aber betont als Christ versteht, sprach er am Mittwochabend über die Bibel und deren innere Provokationsmacht.
Eigentlich hätte die gemeinsam von KHG und Citypastoral organisierte Veranstaltung in den Räumen des ANCORA - Zentrum stattfinden sollen, aber auffallend viele Anrufe im Pfarrbüro und in der KHG machten es bald wahrscheinlich, dass dort die Räumlichkeiten zu knapp sein würden. So beschloss man kurzer Hand in die Kirche umzuziehen. Der Zuspruch, das Thema und der Referent rechtfertigten den Umzug in die Kirche alle Mal, zumal dort ja jeden Tag aus dem provokativen Buch mit Namen Bibel vorgelesen wird.
Heinrich Detering hatte sechs Punkte vorbereitet und führte das voll gefüllte Kirchenschiff schrittweise in die innere Thematik ein. In einem ersten Gang spann er den inneren roten Faden der Bibel: Sie startet mit der kosmologischen Erschaffung der Welt, verjüngt sich dann in einen Blick auf das Volk Israel und erlebt in der Kreuzigung Jesu den engsten Punkt des Trichters, um sich dann - über das Auferstehungsgeschehen - im letzten Buch der Bibel, der Offenbarung des Johannes, erneut kosmisch zu weiten.
Anders als der Koran, so der Referent im zweiten Teil, ist die Bibel nicht als solche verehrungswürdig. Vielmehr ist es die Person, die in diesem Buch greifbar wird, Jesus Christus. Die Bibel ist "nur" - aber was heißt da nur - Zeugnis von einer Person.
Gott wird Mensch, "ein Mensch, der so aussieht wie Du und ich", so H. Detering. Die krasseste Pointierung erfährt die Menschwerdung des Logos in Jes 53, dem berühmten vierten Gottesknechtslied, in dem die Urchristen die radikalste und adäquateste Beschreibung Jesu getroffen sahen. Das Wort wird Fleisch, d.h. aber auch: Gott begibt sich in die Niederungen der menschlichen Interpretierbarkeit. Das ist kein Malus, so H. Detering weiter, sondern gerade die provokative Art der Bibel.
Die Vielfalt, Widersprüchlichkeit und Dialogizität der Bibel wird schon allein an den vielen verschiedenen Textsorten deutlich: Die Novelle von Josef (die Thomas Mann bekanntlich zu einem großbändigen Werk inspirierte), nüchterne Namenslisten mit dem Charme von Telefonlisten unserer Tage, erotische Gedichte, Lieder, Befreiungsgeschichten u.v.a.m. Und auf der Mikroebene wiederholt sich diese Vielfalt, denn jeder einzelne Text erzählt wieder seine Geschichten, warum er wurde und warum er so wurde wie er wurde. Ein literarisch einheitliches Werk ist allein deswegen von vorne herein unwahrscheinlich.
In einem vierten Gang beschrieb der Referent die Kanonbildung: Was kommt in die Bibel rein und was nicht? Das ist ein spannender Prozess gewesen und das heutige Endergebnis stand mitnichten von vorne herein fest. Das gnostisch angehauchte Johannesevangelium hat es geschafft, das ebenso Gnosis nahe Thomasevangelium aber nicht. Manche jetzt "heilige" Schrift schien lange nur Erbauungsliteratur zu bleiben. Andere Schriften - wie etwa manche Bücher der Apostolischen Väter - hatten dagegen teilweise kanonischen Status. Die Destillation der definitiven Bibel brauchte Zeit und geschah nicht überall und zeitgleich.
Manche Widersprüche oder Dubletten sind nicht erst modernen Exegeten oder Kritikern aufgefallen, sondern waren den Bibelschreibern selbst schon bewusst. Etwa dass gleich am Anfang zwei unterschiedliche und letztlich auch unvereinbare Berichte über die Erschaffung der Welt und des Menschen nebeneinander im Buch Genesis stehen. Warum hat man hier nicht geglättet und einen der Texte wegretouchiert? Nach H. Detering gehört die Vielstimmigkeit zum inneren Konzept und Reichtum der Bibel, den man tunlichst eben nicht einebnen sollte, um eine platte metaphysische Logik zu erhalten. "Es gibt immer mindestens zwei Antworten, was schon alleine klarmacht, dass das Wort menschliche Logik sprengt", so der Referent. Die Vielfalt, Widersprüchlichkeit und Dialogizität ist gerade der innere Reichtum der Bibel! Die unterschiedlichen Konzeptionen von Geschichte oder die verschiedenen apokalyptischen Texte der Synoptiker und der Offenbarung des Johannes versuchte man erst gar nicht zu harmonisieren. Jeder Bibelleser weiß, dass Jesus nicht gleichzeitig sieben letzte Worte gesprochen haben kann. Nur ein armseliger Kritiker kann auf die Idee kommen hier Kahlschlag zu machen um das "wahre" letzte Wort Jesu zu erhalten. Es ist gerade die Spannung zwischen Markus ("Mein Gott mein Gott, warum hast du mich verlassen?") und Johannes ("Es ist vollbracht!") die die Vitalität der Bibel ausmacht.
Die Bibel, so H. Detering im letzten Teil, ist eine Provokation, weil sie sich so überhaupt nicht die Mühe gibt "logisch" zu erscheinen. Sie stammt von einem Autor - Gott - und doch von vielen Autoren, Redaktoren und Editoren. Die Bücher sind an Korinther, Epheser oder an Theophilus geschrieben - und richten sich doch an alle Menschen damals und heute. Gleichzeitig ist die Bibel aber auch nicht nur ein Meinungschaos. "Die Bibel ist das einzige Buch, das sich selbst liest", so H. Detering. Paulus liest Jesaja und interpretiert ihn neu. Maria greift im Magnificat (Lk 1,46-55) das Lied der Hanna (1 Sam 2,1-10) auf und versetzt es in einen neuen Kontext. Die Autoren nehmen Texte der Bibel, interpretieren sie neu, entschärfen hier und verschärfen da. H. Gadamer hat einmal den Ausdruck "Überlieferungsgeschehen" gebraucht. Es geht nicht darum sich entweder für das Dogma oder die Häresie zu entscheiden, sondern beide bedingen und bereichern einander. Es braucht das Dogma, das sagt: So jetzt und ab hier ist Schluss mit der Interpretation! Und es braucht genauso die Frechheit doch immer wieder neu anzufangen, die Dinge neu und anders zu lesen. Die Bibel ist eine "heilige Polyphonie", Gottesgeschichte und Menschheitsgedächtnis.
Heinrich Detering ermutigte die Christen in der Widersprüchlichkeit und im provokativen Charakter der Bibel einen Schatz zu sehen. Die Spannung und Lust am internen Weiterdenken macht die Bibel zu einem provokativen Buch, nicht nur für Literaturwissenschaftler.
Im Anschluss an das Referat konnten die Zuhörerinnen Fragen stellen. "Könnten Sie ein paar Sätze zur Opferthematik sagen?", so etwa ein Frager. H. Detering hat keine Angst vor Wörtern wie Opfer. Er sieht in ihnen eine Bereicherung, die nicht aus Gründen einer "Religious Correctness" oder gar Anbiederung geopfert werden sollte. Gerade das Sperrige macht die provokative Spannung der Bibel aus.
Am Ende eines spannenden Abends überreichte Mechthild José-Thumbeck im Namen von KHG und Citypastoral ein Dankpräsent an Professor Detering. Nach einer Möglichkeit den Vortrag im Internet zugänglich zu machen wird gesucht.
P. Manfred Hösl SJ
Professor Detering hat dankenswerterweise den vollständigen Vortragstext als PDF zur Verfügung gestellt. Ebenso kann ein ausführlicher Bericht im Göttinger Tageblatt vom 25.1.2014 hier als PDF heruntergeladen werden.