Präventionsschulung gegenüber sexuellem Missbrauch an Kinder, Jugendlichen und Schutzbefohlenen

Erfahrungsbericht eines Seminars für Hauptamtliche

 

 

In den kommenden Monaten werden, wollen und müssen alle im Bistum Hildesheim angestellten kirchlichen Hauptamtlichen und – in abgespeckter Form – auch die Neben- und Ehrenamtlichen - eine Schulung in Sachen Missbrauchsprävention durchlaufen. Am 14. Und 15. November fand eine solche in Germershausen statt, die Pfarrer Frank Schürkens aus dem Bistum Aachen durchführte – er ist übrigens der einzige Priester und männliche Referent in unserer Diözese. Die Teilnehmer bestanden aus 10 aktiven Priestern, einem Subsidiar, drei Pfarrsekretärinnen, einem Pastoralreferenten, zwei Diakone und drei GemeindereferentInnen. Kurz zu Gast war auch die Missbrauchsbeauftragte des Bistums, Frau Menkhaus-Vollmer sowie ein T.V.-Team, das ein paar Stimmen zur Schulung einholte.

Was heißt in diesem Kontext Missbrauch? Es geht dabei (1) um alles, was im Vorfeld zur Verhinderung von sexualisierter Gewalt getan werden kann. Desweiteren (2) das, was im Verdachtsfall unternommen werden kann und schließlich (3) was nach erfolgter sexueller Gewalt getan werden kann.

Das Seminar begann mit einem kurzweiligen Kennenlernen der Teilnehmer. Diese wurden nach ihren Erwartungen und Befürchtungen gefragt. Die meisten erhoffen sich eine Sensibilisierung. Als Befürchtung wurde genannt, dass die Unbekümmertheit (völlig) verloren geht, dass man dann eine Atmosphäre des Verdachts hat und ein normales pastorales Arbeiten nicht mehr möglich ist. Richtig daran ist nach Pfr Schürkens, dass die ursprüngliche Unbekümmertheit, die ja Missbrauch erst möglich gemacht hat, so weder anzustreben noch zu erreichen ist. Das bedeutet aber nicht, dass man fortan nur noch mit einer Schere im Kopf pastoral arbeiten kann.

Es gab einen Bücher- und Broschürentisch, z.T. zum Mitnehmen. Dann wurde die Entwicklung eines Kindes vom ersten bis zum 16. Lebensjahr skizziert. Welche Entwicklungsschübe durchläuft ein Kind? Wann setzen Trotzphasen ein? Wie „ticken“ drei, fünf oder Zehnjährige? Freilich können die erarbeiteten Erträge nur allgemeine Aussagen treffen und allenfalls eine Richtung aufzeigen.

Pfr Schürkens erstellte eine Bedürfnispyramide – jeder Mensch hat unterschiedliche Bedürfnisse, die freilich dann als Einfallstore für Missbrauch dienen können. Ein kurzer Blick auf die Rechtsgeschichte ergab, dass körperliche Züchtigung erst vor relativ kurzer Zeit gesetzlich erlaubt und somit erst vor noch kürzerer Zeit verboten wurde. Erst am 2.11.2000 wurde das Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung verabschiedet.

Mittels eines Stellungsspieles anhand der Ampelfarben (rot = geht gar nicht; gelb = hm…; grün= geht klar) wurden einzelne Fälle von Grenzüberschreitung, Übergriffigkeit oder gar sexueller Gewalt thematisiert. Es gab zu jedem Fall nur wenige Infos. Darf eine Vater seine Tochter küssen? Darf eine Lehrerin mit einem 15-jährigen Schüler ins Kino gehen? Die Diskussion ergab, dass immer auch der kulturelle Kontext mitschwingt, dass bei jedem und jeder die eigenen Grenzen beachtet werden wollen, dass es auf die Rolle (Vater, Priester, Lehrer…) ankommt, dass die Motivation wichtig ist und – in gewisser Hinsicht –die Freiwilligkeit wichtig ist. Das eine, eindeutige Kriterium gibt es freilich nicht.

Gewalt gegenüber Minderjährigen und Schutzbefohlenen kann emotional, körperlich / seelisch oder sexuell sein. Bei sexualisierter Gewalt existiert oft ein Machtgefälle, handelt es sich um eine geplante Tat und der Täter ist – immer! – schuldig, genauso wie das Kind - immer! - unschuldig ist.

Das Feld zwischen einer Grenzverletzung, einem Übergriff und klarem Missbrauch ist weit. Erst bei letzterem greift das Strafgesetzbuch (StGB Absch. 13). Jugendliche unter 14 Jahren sind nicht strafrechtlich verantwortlich, bei 14-18 Jährigen kommt es darauf an. Ein Drittel der Täter sind selber Jugendliche.

Anhand eines kindgerechten Animationsfilms sollten die Gefühle bei Opfern und Tätern beleuchtet werden. Während die Opfer häufig Gefühle wie Scham, Einsamkeit, Hilflosigkeit u.ä. haben, erschleichen sich Täter oft eine Vertrauensposition bzw. nutzen eine schon vorhandene schamlos aus. Erpressung, Machtausübung, Gewaltandrohung halten die Opfer ruhig, machen sie gar zu Komplizen oder verwirren sie. Oft fühlen sich die Opfer selber schuldig. Die allermeisten Fälle ereignen sich im Nahbereich.

Der zweite Tag thematisierte zunächst die Strategie der Täter. Im Ergebnis ein ziemlich entschlossenes Handeln, in sich verständlich und aufeinander aufbauend: Es beginnt mit der Kontaktaufnahme mit einem gezielt ausgewähltem Opfer. Dieses wird zunächst desensibilisiert („Das ist völlig normal!“). Gleichzeitig kann der Täter in den Augen der Öffentlichkeit als großer Kinderfreund auftreten. (Alternative: Der ganz bewusste Kindskopf, den die Leute nicht als gefährlich wahrnehmen, weil sie sich sagen: „Der ist eben so!“). Oft gibt es Geschenke, die mit sublimen Erwartungen verknüpft sind, manchmal werden Alkohol oder Drogen ins Spiel gebracht und das Opfer isoliert, z.B. als „Lieblingskind“ scheinbar geadelt, in Wirklichkeit aber genau damit bewusst von den anderen abgegrenzt. Das illegale Tun wird zum "Geheimnis" hochstilisiert – wer will schon eine Petze sein und ein Geheimnis verraten? Falls dies alles allein nicht greift kommt es zur Androhung von Gewalt, entweder gegenüber dem Kind selber oder zu Personen aus dessen Nahbereich. Die Perfidität kann sich besonders dadurch zeigen, dass dem Kind unterschoben wird, „es habe es doch selbst gewollt“. In den extremsten Fällen – besonders den seltenen, in denen der Täter fremd ist – kann es auch zu körperlich ausgeübter Gewalt oder gar zum (Vertuschungs-)Mord kommen. Bei all ihrem Tun legen Täter ein hohes Gespür für die Bedürfnisse von Kindern an den Tag, wissen genau wann sich wo eine Gelegenheit für sie bietet. Sowohl Täter als auch Opfer stammen aus allen Sparten und Schichten der Gesellschaft.

Einige Zahlen (auch wenn mit hohen Dunkelziffern zu rechnen ist):
•50% der Fälle passieren mehr als einmal und / oder über Jahre.
•Kinder müssen sich durchschnittlich an sieben (!) Erwachsene wenden, bis ihre Signale endlich ernstgenommen werden! Hier ist die Stellschraube für Erwachsene, hier kann und muss am dringendsten geholfen werden!
•Ein Drittel aller Täter sind selber Jugendliche
•10-25% der Täter sind Frauen – Tendenz steigend!
•In 80% dominiert der „Machtgenuss“ des Täters, seltener ist es das sexuelle Erleben.
•Man geht davon aus, dass jedes 4. oder 5. Mädchen und jeder 12. Junge Opfer sexueller Gewalt geworden ist. Dabei sind ein Drittel der Opfer jünger als 10 Jahre, ein Drittel zwischen 10 und 12, und ein Drittel älter als 12 Jahre.

In einer weiteren Einheit unterschieden die Teilnehmer das Stadium des bloßen Verdachts, das Stadium des Berichtes von oder über einen erfolgten Missbrauch sowie das Stadium eines akuten Missbrauchs. Wie soll man in der jeweiligen Phase korrekt reagieren? Was kann man tun? Dies wurde in drei Gruppenarbeiten erarbeitet und dann dem Plenum vorgestellt.

Das Ergebnis war nicht einfach und bleibt z.T. unbefriedigend. Alle Signale wie Schlafprobleme, Sprachstörungen, Essstörungen, usw. können, müssen aber nicht auf Missbrauch zurückgehen. Das macht das Erkennen so schwierig. Oft kommt man gar nicht auf die Idee, dass Missbrauch vorliegen könnte. Manchmal beschwichtigt eine Erklärung der Eltern, oft fühlen sich die Helfer überfordert. Eine klare Wenn – dann – Diagnose ist selten möglich. Wichtig ist, dass sich alle Beteiligten (Haupt-, Neben- und Ehrenamtliche im pastoralen Dienst) sich Ansprechpartner suchen, und zwar auf freundschaftlicher (ein guter Freund oder Kollege) wie offizieller Ebene (z.B. die Missbrauchsbeauftragten der Diözesen). Letztere dürfen übrigens durchaus schon in einem frühen Verdachtsstadium, ggf. auch anonym, angerufen werden. Dies ist besser als selber "Detektiv zu spielen". Bei Veranstaltungen mit Jugendlichen muss man unbedingt Begleitpersonen beiderlei Geschlechts dabei haben und sollte versuchen mit diesen Verdachts- oder tatsächliche Fälle gemeinsam zu klären. Unabdingbar ist das strenge Einhalten des Jugendschutzgesetzes, etwa was Alkohol angeht.

Zuletzt gab es jede Menge Papier. Etwa die Präventionsregeln von WILDWASSER (einer Missbrauchsopferorganisation) oder die Verordnung des Generalvikariats. Diese Verordnung, wie auch die Selbstverpflichtung aller Teilnehmer dient nicht nur den Schutzbefohlenen, sondern auch dem Schutz der MitarbeiterInnen. Mehr Infos über Missbrauchprävention im Bistum Hildesheim mit weiteren Links gibt es hier.