Allerheiligengottesdienste ganz mit Blick auf die heilige Edith Stein
Heinrich Detering stellt in den Hauptgottesdiensten in Sankt Michael eine unbequeme, aber aktuelle Heilige vor!
Wer in Göttingen am Allerheiligensonntag in eine katholische Eucharistiefeier geht, wird höchstwahrscheinlich was von Edith Stein hören. Das haben die katholischen Pfarrer so abgesprochen. Grund ist die Vergabe des Edith Stein Preises an unseren Bischof Norbert Trelle am kommenden Sonntag. Vor der Preisverleihung wird der Hildesheimer Bischof - in der DBK zuständig für Flüchtlingsfragen - unsere neue Edith Stein Statue einweihen, die der Künstler Peter Marggraf angefertigt hat - er wird übrigens dann auch dabei sein.
Wer aber ist Edith Stein? Heinrich Detering, Germanistikprofessor in Göttingen und Mitglied des hiesigen Edith Stein Kreises stellte den Kirchenbesuchern in seiner Predigt die Heilige vor - den Text drucken wir hier weiter unten ab. Mit Bezug auf die Seligpreisungen des Tagesevangeliums (Mt 5,3-10): Sie war sicher nicht arm im Geiste. Und die Predigt von heute über sie sicher auch nicht...
Nach dem Hochamt konnten sich die Kirchenbesucher bei einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen stärken. Die Minis hatten gebacken - oder backen lassen??? - um ihre Minikasse aufzubessern.
Hier der Text der Predigt von Heinrich Detering:
Predigt zum Gedenken an Edith Stein
(St. Michael, Göttingen, Allerheiligen 2015; zu den Seligpreisungen)
Liebe Schwester und Brüder: „Arm im Geiste“ – nein, das ist Edith Stein nicht gewesen. Dass ausgerechnet sie einmal „selig“ gepriesen werden würde, gar heiliggesprochen und vom Papst erhoben zur Patronin Europas, das hätte sie sich in ihren Göttinger Jahren nicht in ihren kühnsten Träumen ausgemalt. Vielleicht hätte der Gedanke sie sogar abgeschreckt. Ausgerechnet sie, die Intellektuelle, die schon als Schülerin in Breslau durch ihre Brillanz aufgefallen war und die hier in Göttingen zum aufsteigenden akademischen Star wurde: sie hatte sich vom jüdischen Glauben ihrer Familie ab- und, stattdessen, der modernen Philosophie zugewandt. Was der Philosoph Edmund Husserl hier unter dem klangvollen und rätselhaften Namen „Phänomenologie“ betrieb, das fand in Edith Stein eine begeisterte und begabte Jüngerin. „Edith Stein, Philosophin“ steht denn auch auf ihrer Göttinger Gedenktafel, nahe dem Albanikirchhof. Mehr nicht.
Selbstbewusst sei sie als junge Frau gewesen, bis zum Hochmut, so erinnern sich Mitschüler und Kommilitonen an sie; und übrigens von modebewusstem Chic. „Arm im Geiste“ hätte sie da beim besten Willen niemand genannt. Eben aus ihrer intellektuellen und seelischen Unruhe heraus aber entdeckt sie hier in Göttingen zum ersten Mal den christlichen Glauben. Zum ersten Mal stellt sich ihr die Frage nach Gott, von dem sie lange nicht mehr hatte wissen wollen. Sie stellt sich zunächst in persönlichen Begegnungen mit Göttinger Lutheranern. Sie stellt sich aber bald auch als intellektuelle Frage: in Abendvorträgen des Philosophen Max Scheler. Der war 1899 zur katholischen Kirche konvertiert und schien einen Weg zu öffnen, der die neue Philosophie und den alten Glauben versöhnte. Und hier in Göttingen nahm Edith Stein dann auch zum ersten Mal die Schriften der heiligen Teresa von Avila zur Hand, die für sie lebensverändernd werden sollten.
Nicht lange nach diesen Göttinger Jahren, 1921, wird diese Edith Stein dann zur katholischen Kirche konvertieren. Die entscheidende Vorbereitung dieses Weges aber hat sich hier vollzogen, in unserer Stadt. Mit ihrem Lehrer geht Edith Stein dann als Meisterschülerin nach Freiburg. Sie will sich habilitieren. Dieses Vorhaben ist ganz ihre Sache. Sie kämpft sie allein durch. Und sie scheitert ganz allein. Sie wird vom einen Professor zum anderen geschickt, von Husserl zu Heidegger und zurück; alle weisen sie höflich, aber entschieden ab. Viermal wird allein schon der Versuch der Habilitation abgelehnt, an drei Universitäten. Eine jüdische Frau als Professorin der Philosophie – das geht nicht. Aus.
Edith Stein gibt nicht auf. Sie wird zur liberal-katholischen Frauenrechtlerin, zur Lehrerin, zur pädagogischen Publizistin. Sie setzt nun ihren wissenschaftlichen Ehrgeiz darein, Husserls Philosophie zu verbinden mit dem christlichen Glauben. Denn sie will eine Brücke errichten zwischen katholischer Tradition und moderner Gegenwart. Erst jetzt entdeckt sie auch das Judentum neu, dem sie entstammt. Erst jetzt begreift sie ihren christlichen Glauben nicht als Gegensatz, sondern als eine Frucht des Judentums. Auch das bringt sie in neue Konflikte. Ihre Mutter kommt niemals über das hinweg, was sie als einen Verrat an Herkunft und Familie empfindet. In der Kirche erlebt sie den Argwohn gegenüber Juden, auch wenn sie getauft sind. Und sie erkennt von Anfang an, worauf die Verfolgung der Juden durch den nationalsozialistischen Staat hinauslaufen wird. Im April 1933, nur drei Monate nach Hitlers Machtübernahme, schreibt sie ihren heute berühmten Brief an den Papst.
Jahrzehntelang haben viele in der Kurie diesen Brief zu verdrängen versucht. Als er 2003, nach siebzig Jahren, endlich veröffentlicht wurde, da konnte die Welt sehen, wie recht, wie entsetzlich recht Edith Stein gehabt hatte. Und wie allein sie auf weiter Flur stand. Dieser Brief ist ein Lehrstück geblieben, bis heute, auch für eine Predigt zum Hochfest Allerheiligen. Darum verdient er unsere besondere Aufmerksamkeit.
„Als ein Kind des jüdischen Volkes, das durch Gottes Gnade seit elf Jahren ein Kind der katholischen Kirche ist“, so schreibt Edith Stein, „wage ich es, vor dem Vater der Christenheit auszusprechen, was Millionen von Deutschen bedrückt. Seit Wochen“ (und es sind ja erst Wochen) „sehen wir in Deutschland Taten geschehen, die jeder Gerechtigkeit und Menschlichkeit … Hohn sprechen. Jahre hindurch haben die nationalsozialistischen Führer den Judenhass gepredigt. Nachdem sie jetzt die Regierungsgewalt in ihre Hände gebracht … hatten, ist diese Saat des Hasses aufgegangen.“ Dann spricht sie von Selbstmorden bedrängter Juden und fährt fort: „Ich bin überzeugt, dass es sich um eine allgemeine Erscheinung handelt, die noch viele Opfer fordern wird. ... die Verantwortung fällt doch zum großen Teil auf die, die sie so weit brachten. Und“, auch das schreibt sie an den Papst, „sie fällt auch auf die, die dazu schweigen Alles, was geschehen ist und noch täglich geschieht, geht von einer Regierung aus, die sich ‚christlich‘ nennt. Seit Wochen“ (es sind ja erst Wochen) „warten und hoffen nicht nur die Juden, sondern Tausende treuer Katholiken in Deutschland – und ich denke, in der ganzen Welt – darauf, dass die Kirche Christi ihre Stimme erhebe, um diesem Missbrauch des Namens Christi Einhalt zu tun. Ist nicht diese Vergötzung der Rasse und der Staatsgewalt, die täglich durch Rundfunk den Massen eingehämmert wird, eine offene Häresie? Ist nicht der Vernichtungskampf gegen das jüdische Blut eine Schmähung der allerheiligsten Menschheit unseres Erlösers, der allerseligsten Jungfrau und der Apostel? Steht nicht dies alles im äußersten Gegensatz zum Verhalten unseres Herrn und Heilands, der noch am Kreuz für seine Verfolger betete? … Wir alle, die wir treue Kinder der Kirche sind und die Verhältnisse in Deutschland mit offenen Augen betrachten, fürchten das Schlimmste für das Ansehen der Kirche, wenn das Schweigen noch länger anhält.“
So endet sie schließlich mit „der Überzeugung, dass dieses Schweigen nicht imstande sein wird, auf die Dauer den Frieden mit der gegenwärtigen deutschen Regierung zu erkaufen. … Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird in Deutschland kein Katholik mehr ein Amt haben, wenn er sich nicht dem neuen Kurs bedingungslos verschreibt.“ Und diesen Brief unterschreibt sie mit den Worten: „Zu Füssen Eurer Heiligkeit, um den Apostolischen Segen bittend, Dr. Editha Stein.“
Dr. Stein hat auf diesen wahrhaftig prophetischen Text eine nichtssagende Antwort bekommen. Nicht vom Papst, sondern von Staatssekretär Pacelli, dem späteren Pius XII. Wieder sah es so aus, als sei Edith Stein gescheitert, wie bei näherem Hinsehen eigentlich fast überall. Nun aber beginnt eine erstaunliche Wandlung. Edith Stein nimmt ihr Scheitern an, willigt in es ein, will es. Sie kehrt die Denkrichtung um, existenziell und radikal: Sie verwandelt ihre Spottlust in Strenge gegenüber sich selbst und ihre Erniedrigung in gewissermaßen freie Selbst-Erniedrigung. Sie zwingt sich mit aller Willenskraft, aus dem Scheitern einen Sieg zu machen. Und das Unheimliche ist, dass ihr das tatsächlich gelingt.
1933 tritt sie in das strengste Kloster ein, das sie finden kann, den Karmel, den Orden der heiligen Teresa. Weil sie nirgends die Erste werden durfte, wird sie willentlich die Letzte. Aus „Edith Stein“ wird „Teresa Benedicta a Cruce“. Das ist der Ordensname, den sie selber wählt: „gebenedeit vom Kreuz“. Auf dem Weg über die heilige Teresa, der sie hier in Göttingen zuerst begegnet war, entdeckt sie im Karmel die Kreuzes- und Leidensmystik des Johannes vom Kreuz, dessen spanische Dichtungen sie kongenial übersetzt. Sie schreibt Bücher, die mit größter Klarheit die Dunkelheit dieser Mystik erhellen. Sie hört nicht auf, sie gibt nicht auf, auch nicht nach der Flucht aus Deutschland in die Niederlande. Sie denkt und betet und arbeitet, bis sie deportiert wird, zusammen mit ihrer Schwester Rosa.
Längst ist es da der sie beherrschende Gedanke geworden, dass man mitten in allem Scheitern versuchen müsse, eben mit dem Scheitern gewissermaßen die andere Waagschale zu füllen: gegen die Macht die Ohnmacht zu setzen, sie mit aller Kraft anzunehmen, zu umarmen als radikale Nachfolge Jesu, als Nachfolge des Kreuzes. „Benedicta a Cruce“. Diese Nachfolge endete im August 1942, in Auschwitz.
Liebe Schwestern und Brüder: Ein einziges Mal hat Edith Stein auch hier gestanden, an der Türe unserer Kirche, in der Christnacht, in Erwartung einer Heiligen Messe. Da aber blieb die Tür für sie verschlossen. Es war natürlich bloß ein dummer Zufall, dass es in Sankt Michael keine weihnachtliche Mitternachtsmesse gab und dass Edith Stein den Pfarrbrief nicht lesen konnte, weil es den auch noch nicht gab. Aber die Szene hat doch etwas Sinnbildhaftes. Für sie, die Jüdin, die selbstbewusste Frau, die glänzende Intellektuelle, die asketische Ordensfrau – für sie blieben im entscheidenden Augenblick die Türen geschlossen. Alle Türen. Auch die ihrer Kirche.
Eben deshalb wurde sie dann für Papst Johannes Paul II., in seinem Bemühen um einen neuen Umgang mit der Schuld auch der Kirche an den Juden, eine so wichtige Gestalt. Er hat sie, die katholische Jüdin, die scharfsinnige Intellektuelle und die demütige Ordensfrau, zu den höchsten Ehren erhoben, die die Kirche zur Verfügung hat. Er hat sie selig-, dann heiliggesprochen, und er hat sie zur Patronin Europas erklärt.
Liebe Schwester und Brüder: Diese Edith Stein, unsere Göttinger Kommilitonin, unsere Lehrerin und Nachbarin – sie ist wirklich eine sonderbare Heilige gewesen. Und sie ist ganz gewiss keine gemütliche Heilige geworden. Eine sentimentale Verehrung ist gegenüber ihr schwer möglich. Sie weckt Widerspruch. Sie hatte es schwer. Sie machte es sich selber schwer. Und sie macht es uns schwer. Und zwar genau dort, wo wir es uns selber nicht leicht machen dürfen.
Denn diese Edith Stein, die wahrhaftig nicht arm war an Intellekt, ist auf ganz andere Weise arm geworden im Geiste, vor Gott. Ihrer Natur nach alles andere als sanftmütig, hat sie mit aller Willenskraft eine Sanftmut gelernt, die gründlicher und schmerzhafter wurde, als wir uns das vorstellen können. Sie hat wahrhaftig gehungert und gedürstet nach Gerechtigkeit. Sie hat den Frieden gesucht, für Juden und Christen, für ihr Land und für Europa, für die Kirche. Sie ist geschmäht und verfolgt worden, um jenes Jesus Christus willen, der selbst, wie sie nicht müde wurde zu betonen, als ein Jude in diese Welt gekommen ist. Jenes Jesus Christus, von dem sie gelehrt hat, dass man sein Angesicht in dem jedes einzelnen Menschen wiedererkennen müsse, so dass es für Christen eigentlich gar keine ‚Fremden‘ geben könne.
Weil sie so unendlich getrauert hat, darum wollen wir darauf vertrauen, dass Er sie tröstet. Darum preisen wir sie selig, mit der Kirche – mit der Weltkirche und mit unserem kleinen St. Michael. Und darum könnten wir darum beten, dass wir ihrem Weg, der zum Weg Christi wurde, auf ihre Fürsprache hin folgen können, wenn es darauf ankommt. Ihrem scharfen Blick zum Beispiel, der den tödlichen Hass in der Vergötzung von Rasse und Volk erkennt, ihrem Mut, der das Erkannte offen ausspricht, ihrem Glauben und, wenn es sein muss, ihrer Leidensbereitschaft und ihrer Liebe.
Amen.
Heinrich Detering