Die Glocken von St. Michael
von P. Heribert Graab SJ
(Pfarrer in St. Michael von 1986 bis Juni 2008)
Etwa ein halbes Jahr – von Januar bis Juni 2008 – mussten die Glocken von St. Michael schweigen: Nach mehr als fünfzig Jahren waren dringend notwendige Reparaturen fällig: Ein gefährlicher Riss in unserer größten Glocke gab den Ausschlag. Die zweite Glocke war mehr als vertretbar „ausgeschlagen”. An der Technik haperte es. Und zudem erschien es ratsam, den stählernen Glockenstuhl (von 1914) durch einen neuen Glockenstuhl aus Eichenholz zu ersetzen. Ende Juni erklangen dann alle drei Glocken wieder – weicher und harmonischer als je zuvor.
Damit wurde zugleich eine Lücke im ökumenischen Zusammenklang aller Kirchenglocken der Innenstadt von Göttingen wieder geschlossen. Gemeinsam gliedern sie nun wieder den Tag durch ihre melodische Einladung zum Morgen-, Mittags- und Abendgebet. Das Anliegen vieler muslimischer Mitbürger, der Gebetsruf des Muezzin möge auch von deutschen Moscheen erklingen dürfen, und die kontroversen Diskussionen zu diesem Thema sollte uns als Christen nachdenklich machen: Das Gebet zu den Tagzeiten ist eine alte christliche Tradition, die bei uns fast nur noch in den Klöstern gepflegt wird. Vom Christentum hat der Islam diese Gebetstradition als eine „Säule” gelebten Glaubens übernommen und praktiziert sie bis heute. Von Muslimen könnten wir wieder lernen, auf die Glocken zu hören, die uns zum Gebet einladen – uns als Katholiken etwa zum „Engel des Herrn”.
Vor allem aber erklingen die Glocken von St. Michael als Einladung zum Gottesdienst – und das nicht nur sonntags, sondern an jedem Tag der Woche. Sie erinnern uns – wie schon viele Generationen vor uns – dass es Wichtigeres gibt als die Geschäfte und die Hetze des Alltags. Sie sind so etwas wie eine klingende Brücke zum Dem, der unserem Leben letztlich Sinn und Ziel gibt.
Selbstverständlich erfreuen uns die Glocken nicht zuletzt, wenn Sie zu festlichen Anlässen läuten: Sie tragen die Hochzeitsfreude manch jungen Paares in die Stadt hinein und möchten viele an dieser Freude Anteil nehmen lassen; oder auch an der Freude von Eltern bei der Taufe ihrer Kinder. Immer wieder läuten die Glocken auch als „Totenglocken” und laden ein zum Gebet für Verstorbene und zur tröstenden Anteilnahme mit deren Angehörigen.
Das hohe Alter unserer Glocken könnte uns auch vor die Frage stellen, wie oft sie wohl in großer Not der Gemeinde und der Stadt geläutet haben mögen – als Alarmglocken bei Bränden oder in Kriegsgefahr. Und nicht zuletzt brachten sie auch dankbare Freude zum Ausdruck, wenn endlich wieder Frieden einkehrte. Dass uns das Glück geschenkt ist, seit mehr als sechzig Jahren in Frieden leben zu dürfen, ist dann ein weiterer Grund, dankbar zu sein.
Ihre älteste, 1777(?) gegossene Glocke, die die katholische Kirche 1815 für ihren neu-erbauten Glockenturm aus dem Kloster Marienrode erhalten hatte und die bereits seit 1914 nicht mehr in Gebrauch war, gab die Gemeinde 1950 an die katholische Notkirche in Grone ab. Sie ist heute im Besitz der Kirche St. Heinrich und Kunigunde in Grone und bildet dort einen Bestandteil des Geläuts.
1914 gab die Kirchengemeinde bei der Gießerei Petit & Edelbrock in Gescher/Westfalen drei Glocken in Auftrag, von denen jedoch die beiden größeren bereits im 1. Weltkrieg enteignet wurden. Die daraufhin 1924 ebenfalls bei Petit & Edelbrock bestellten beiden Glocken wurden 1942 wiederum für Kriegszwecke eingefordert. Erhalten blieb nur die kleinste Glocke des Geläuts von 1914. Nach dem 2. Weltkrieg erhielt St. Michael leihweise zwei Glocken von der Glockensammelstelle Hamburg.
(Foto: Ausbau und Abtransport der Glocken zur Reparatur am 10.01.2008)
Die erste Glocke (1914)
ist als einzige vom alten Geläut übrig geblieben und hängt also seit 1914 in unserem Kirchturm, von wo sie zum Gottesdienst einlädt. Gegossen wurde diese kleinste Glocke aus Bronze durch die Firma Petit und Edelbrock, Gescher/Westfalen (1914). Sie hat einen Durchmesser von 91 cm, wiegt 405 kg und erklingt im Ton b'.
Ihre Inschrift lautet: „Charitas Christi urget nos. ANNO DOMINI 1914”.
Die Glocke hat schlichte Kronenöhre. Die um den Glockenhals verlaufende Inschrift ist oben und unten von Friesen mit Blattornamenten eingefaßt. Auf der Flanke befindet sich das Zeichen der Glockengießerei, eine Glocke in einem Wappenschild. Auf der anderen Seite ist ein Relief des hl.Vinzenz eingegossen (Foto) - sozusagen als Illustration der Inschrift, aber wohl auch als Zeichen der Hochachtung vor den Barmherzigen Schwestern des hl. Vinzenz, die 1865 zunächst eine Sozialstation neben der Kirche gründeten und wenig später das Krankenhaus Mariahilf. Oberhalb des Schlagrings verlaufen Stege um die Glocke.
Die zweite Glocke (1615)
Sozusagen als Ersatz für die beiden im Krieg eingeschmolzenen Glocken erhielt St. Michael nach dem 2. Weltkrieg leihweise zwei Glocken von der Glockensammelstelle Hamburg. Die mittlere Glocke unseres Geläuts stammt aus einer Kirche in Rothwaltersdorf/Schlesien. Von dort wurde sie im 2. Weltkrieg zum Glockenfriedhof Hamburg abtransportiert, aber nicht zu Kriegszwecken eingeschmolzen. St. Michael erhielt diese Glocke nach 1952 - wie gesagt - zur Entschädigung für eine der enteigneten Glocken als Dauerleihgabe. Diese Glocke ist um einiges älter als unsere eigene. Sie wurde bereits im Jahre 1615 aus Bronze gegossen. Sie hat einen Durchmesser von 100 cm, wiegt 585 kg und erklingt in as'.
Die Inschrift am Glockenhals lautet: „RVF MICH AN IN ZEIDT DER NODT SPRICHT DER HER SO WIL ICH DICH ERETEN VND DV SOLT MICH PREISEN ALS GOTES WIL”.
Eine zweite Inschrift befindet sich über dem Schlagring: „WOLFGANGGK CSHISWITZ AVF WALTERSDORF. CHRISTINA CISCHWITZ INGEBORNE STILFRIDIN: VERWVNDERT EVCH DES NICHT DEN ES KOMBT DIE STVNDE IN WELLCHER ALLE DIE IN DEN GREBERN SINDT WERDEN SEINE STIMME HOREN VND WERDEN ERFVRGEHEN DIE DA GVTES GETTAN HABEN ZVR AVFERSTEHVNG DES LEBENS DIE ABER VBELS GETHAN HABEN ZVR AVFERSTEHVNG DES GERICHTES. ANNO DOMINI 1615”.
Die Kronenöhre der Glocke sind mit Maskenköpfen verziert. Um den Glockenhals verlaufen ober- und unterhalb der Inschrift Friese mit Blattornamenten.
Die dritte Glocke (1645)
ist zugleich die größte Glocke im Turm von St. Michael. Sie stammt ebenfalls aus Schlesien, aus einer Kirche in Friedland. Von dort wurde auch sie im 2. Weltkrieg zum Glockenfriedhof Hamburg abtransportiert und nicht zu Kriegszwecken eingeschmolzen. St. Michael erhielt die Glocke 1952 als Entschädigung für eine der enteigneten Glocken als Dauerleihgabe. Auch diese Glocke wurde aus Bronze gegossen und zwar im Jahr 1646. Sie hat einen Durchmesser von 106 cm, wiegt 690 kg und schlägt den Ton ges' an.
Die Inschrift um den Glockenhals lautet: „IMMOLA DEO SACRIFICIVM LAVDIS ET REDDE ALTISSIMO VOTA TVA ET INVOCA ME IN TRIPVLATIONE ERVAM TE HONORICABIS ME PSAL.50”.
Die Inschrift auf der Flanke: „ZV DER ZEIT PFARRHERR DANIEL MODER AMBTMANN MELCHIOR FRIEBE BVRGE MEISTER KASPER TRAPPE RAHTSVERWANTE FRIDRICH BERCKMANN CHRISTOPH TOLCH STADTVOGT HANS HARDER ME FECIT MARTIN SCHRETER: IM 1646 DEN 9 SONTAG TRINITATIS IST DIESE KIRCH SAMBT DEM STEDLEIN ALLES ABGEBRENT”.
Eine dritte Inschrift über dem Schlagring: „H.H.H. VON HOBERG RO: KAY. MAY. RATH. D. BEIDER FVRSTHIMER SCHWEIDNITZ V. JAVER AMBTSVERWALTER. KIRCHVATER HANS KASPER MERTTEN HILSCHER GOERGE STECKE”.
Die Kronenöhre der Glocke sind mit Maskenköpfen verziert. Um den Glockenhals verlaufen ober- und unterhalb der Inschrift Friese mit Blattornamenten.