"Es geht um Erlösung." Was sagt der TATORT über die Religion der Deutschen aus?

Prof. Claudia Stockinger stellt das Ergebnis ihrer Ermittlungen im ANCORA-Zentrum vor

 

 

Claudia Stockinger, Germanistikprofessorin in Göttingen und seit vielen Jahren Gemeindemitglied, beschäftigt sich schon seit geraumer Zeit damit, wie Religion im Tatort „rüberkommt“. Am Dienstagabend präsentierte sie ihre Ermittlungsergebnisse vor gut dreißig interessierten ZuhörerInnen.

Regina Möhring vom Team Citypastoral stellte die Referentin charmant und gewitzt vor. Frau Stockinger hatte ihrem Vortrag anschauliche Szenen aus diversen Tatort-Folgen beigefügt, so dass das Erzählte schnell anschaulich wurde.
11 Mio Zuschauer gucken am Sonntagabend Tatort. Zum Vergleich: Nur gut 4 Mio Deutsche besuchen sonntags einen Gottesdienst. Löst also der Tatort den Gottesdienst als wöchentliches Ritual ab? Zu welch mächtiger Institution der Tatort geworden ist wurde auch deutlich, als der damals neue Kommissar Till Schweiger das sakrosankte Intro mit der Zielscheibe und dem Flüchtenden abändern wollte – ein Proteststurm mit quasireligiöser Sprache war die Folge!

Im Tatort werden, so C. Stockinger, viele Themen behandelt, die auch sonst die (kirchlichen) Diskussionen bestimmen, z.B. Sterbehilfe, Organspende, Missbrauch. Das Genre fordert allerdings bestimmte Rechte. So müssen am Ende die Bösen bestraft werden. Kommissare kämpfen – wie aktive Christen – für eine bessere Welt. Hier gibt es ein mehr oder minder klares Konzept, das freilich auch hier und da mutwillig unterlaufen wird. „Ach, manchmal wäre es schön, wenn man wüsste, dass es IHN wirklich gibt, diesen Gott. Dann bekäme wenigstens jeder das, was er verdient,“ so Kommissar Thiel aus Münster in einem Szeneausschnitt. Der fast immer skeptisch auftretende Kommissar, Sympathieträger des Zuschauers, hat da aber seine Zweifel und muss deshalb die Gerechtigkeit auch weiterhin selber in die Hand nehmen.

Auf den ersten Blick kommt Religion im Tatort selten (explizit) vor. Von 411 von Frau Stockinger untersuchten Folgen hatten nur 13 explizit religiösen Inhalt. Aber wenn man bedenkt, dass auch andere Themen nicht oft vorherrschen, dann kann man sogar sagen, dass Religion recht häufig vorkommt. Nach den Themen Soziales (74 Folgen) und Medizinisches (14) landet die Religion immerhin auf den 3. Platz, noch vor der Wirtschaftskriminalität (9). Zählt man auch die Folgen noch dazu, in denen Religion einen relevanten Nebenaspekt darstellt, dann kommt die Religion sogar in 52,6% der Folgen vor!

Im muslimischen Kontext geht es oft um kulturelle Differenzen. Aber auch hier wandelt sich das Bild im Laufe der Zeit. In den 70er Jahren stand der fremde Gastarbeiter im Focus. In einer Folge von 2007 ging es um das Verhältnis von sunnitischem Islam und Alevitentum. Der Clou: Es war eben kein Ehrenmord wie man gleich vermuten hätte können!

Innerhalb des Christentums dominiert ganz klar der Katholizismus. Ob er die besseren Bilder hat? Der evangelische Landesbischof Ralph Meister meinte einmal, dass der Katholizismus mehr fürs Fernsehen, der Protestantismus dagegen mehr für das Radio geeignet sei. Sekten, Esoterik und Satanisten werden finster, manchmal lächerlich und manchmal skurril präsentiert. Während die großen Kirchen klar benannt werden scheut man bei angespielten Organisationen wie Scientology den Klarnamen.

Ein interessantes Beispiel für Klischee und dessen Zertrümmerung ist die WDR-Folge Heiligblut von 1996. Ein skeptischer Kommissar steht einer verschlossen wirkenden Äbtissin (gespielt von Maria Schell) gegenüber. Die Zuschauersympathien liegen klar auf Seiten des modernen Ermittlers und nicht auf Seiten der finsteren Nonne. Aber Kommissar und Zuschauer machen im Laufe der Sendung einen Lernprozess durch – Kommissar (und Zuschauer!) nähern sich immer mehr der Äbtissin an. Die Nonne hat mehr Tiefgang als man zunächst meint! Überhaupt werden allzu billige Klischees gerne zerstört. Der verschlossene Priester in einer weiteren Sendung, der förmlich was zu verbergen haben muss, ist am Ende doch ok!
Religionsnahe Themen sind u.a. Opferung, Stellvertretung, Zeugenschaft und natürlich das Beichtgeheimnis. Im Film Passion (ORF 2000) wird sogar Jesus ermordet – allerdings „nur“ der vom Passionsspiel.

Tatort-Fans wollen ihren Krimi realistisch. Es darf keine metaphysischen Erklärungsmuster geben. „I glab an Beweise“, sagt ein Kommissar. Wie die allermeisten Ermittler ist der Kommissar der Religion gegenüber skeptisch und distanziert. Manchmal aber wird er in seiner Unglaubensgewissheit doch ein wenig erschüttert.

Da der Tatort in verschiedenen ARD-Sendeanstalten produziert wird ist er Spiegelbild des föderativen Nachkriegsdeutschlands. Dennoch tritt Religion selbst im volkskatholischen München genauso wie im pietistischen Stuttgart eher als von der säkularen, gesellschaftlichen Normalität abweichend auf, auch wenn die Religion hier und da noch mit folkloristischem Dekor daher kommt. Aber auch den Bayern und Schwaben muss das Christentum mittlerweile erklärt werden, zumal ja die anderen Regionen mitgucken und was verstehen müssen.

Beerdigungen sind praktisch immer christlich. Nachdem die Kreuze aus den Amtsstuben verschwunden sind, sind sie auch aus dem Tatort verschwunden. Hochzeit kommt im Tatort, so C. Stockinger auf Nachfrage, kaum vor. Hier unterscheidet sich der Tatort als Krimi vom Hollywoodfilm. Letztere enden als Komödie oft mit einer Hochzeit, während der Krimi meist erst lange nach der Hochzeit beginnt...

Claudia Stockinger schaffte es auch Nicht-Tatort-Zuschauer zu faszinieren! Der Vortrag war technisch exzellent präsentiert und sehr gut verständlich, gleichwohl dennoch wissenschaftlich. Für den, der es ganz genau wissen will, gibt es jetzt ein dickes wissenschaftliches Buch: Föderalismus in Serie, verfasst u.a. von  Claudia Stockinger.

Nach einer guten und kurzweiligen Stunde gab es kräftigen Applaus! Regina Möhring überreichte im Auftrag des Teams einen Geschenkkorb mit allerlei Leckereien für einen ausgiebigen Fernsehabend...