Eckstein oder Schlussstein? Jüdisches zu Psalm 118,22
Leibl Rosenberg stellt jüdische Exegesen zu einem Vers vor, den Christen fast schon automatisch auf Christus beziehen
Leibl Rosenberg, ein bayrischer Jude, Publizist und Dozent aus Nürnberg (jüdisch: Noris), stellte am Montagabend Gedanken zu einem oft zitierten Psalmwort an. Er präsentierte am Anfang seines Vortrages verschiedene Bibelübersetzungen, die schon die Diversität der Ansichten durchschimmern ließen. In der im katholischen Gottesdienst verwendeten Einheitsübersetzung heißt es z.B.: Der Stein den die Bauleute verwarfen, er ist zum Eckstein geworden. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber übersetzt: Der Stein, den die Bauherrn verwarfen, er ist zum Eckhaupt geworden. Er versucht bekanntlich möglichst nahe am hebräischen Urtext zu bleiben, wo es heißt: Rosch Pina (wörtl: Haupt-Ecke)
Klar ist jedenfalls, dass es sich nicht um einen Schlussstein wie in einem gothischen Gewölbe handelt, sondern um einen Grundstein, von dem aus der ganze Bau errichtet und ausgerichtet wird. Christen erkennen in diesem Eckstein natürlich Jesus wieder, der von seinem Volk mehrheitlich bis heute nicht als Messias akzeptiert wird. Der Psalm wäre damit eine Art Prophezeiung des späteren Schicksals Jesu.
Aber auch im Judentum hat man über diesen Vers nachgedacht. Im Targum Onkelos (eine Art freien Übersetzung der Bibel aus dem Hebräischen ins Aramäische aus dem 2. Jhd vor Christus) bezieht man diesen Vers auf David. Laut 1 Sam 16 sollte Samuel ja einen der Söhne Isais zum König von Israel salben. Einer nach dem anderen trat vor, aber keinen von ihnen hatte Gott erwählt. Auf den Kleinsten, der noch bei Schafehüten war, ist keiner gekommen, mit dem kleinen David hat niemand gerechnet.
Andere jüdische Exegeten sehen das Volk Israel als Ganzes als den Baustein an, der von den Baumeistern (den Mächtigen der Völker) verworfen wurde. Wieder andere stellen Verbindungen zum Segen Jakobs in Gen 49 her oder zum Stein, auf dem Jakob schlief, als er die Himmelsleiter sah (Gen 28). Auch der Tempelbau des Salomo wird immer wieder genannt.
Nach dem knapp einstündigen Vortrag konnte man Fragen stellen, die der sichtlich gut gelaunte Referent gerne beantwortete. Er schloss mit einer doppelten Erkenntnis: Christen täten gut daran jüdische Exegese mehr zur Kenntnis zu nehmen, als das bisher der Fall ist. Aber umgekehrt beklagte Rosenberg auch eine unzulässige Ausblendung der christlichen Exegese in jüdischen Kontexten.
Die Veranstaltung war Teil des Göttinger Jahres zu den Psalmen. Eingeladen hatte die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Göttingen e.V. Moderatorin an diesem Abend war Frau Lenore Schneider-Feller.