"Die Religionen sind auf der Anklagebank!"
Ein Kommentar von P. Christian Rutishauser SJ
Die Religionen sind auf der Anklagebank. Nicht, dass sie das Opium für das Volk wären. Diese Funktion haben heute Unterhaltung und Konsum. Religionen werden beschuldigt, sie neigten in sich zu Gewalt und somit zu Unrecht. Eigentlich sei es unethisch, gläubig zu sein. Vor wenigen Jahren wäre eine solche Behauptung kaum jemandem in den Sinn gekommen. Der Gläubige galt als unaufgeklärt, aber nicht als unethisch. Wenn jedoch Anschuldigungen erhoben werden, braucht es eine Prüfung der Anklage. Ohne Verteidiger kein Rechtsprozess. Es geht nicht um Apologie, sondern um Redlichkeit. Es erliegen ja nicht nur Massen leicht dem Sündenbockmechanismus, sondern auch Gebildete, vor allem dann, wenn sie sich grundsätzlich infrage gestellt fühlen.
Religionen werden wegen ihres Wahrheitsanspruchs für gewalttätig erklärt. Diesem Vorwurf sehen sich vor allem Judentum, Christentum und Islam ausgesetzt. Es ist tatsächlich nicht leicht, das Verhältnis von Einheit und Vielheit zu bestimmen, doch dazu gibt es Denkmodelle. Schwieriger ist die Frage nach der Wahrheit. Wenn religiöse Menschen glauben, sie zu besitzen, liegen sie tatsächlich falsch. Wahrheit ist kein Objekt. Sie ist grösser als der Mensch oder eine historisch-konkrete Erscheinung einer Religion. Gläubige sollten dies wissen, da von Gott kein Bild zu machen ist und er letztlich Geheimnis ist, nicht Rätsel. Der Mensch ist der Wahrheit ausgesetzt. Im rabbinischen Judentum ist sie in einen lebendigen Interpretationsdialog eingebettet. Im Islam scheint sie traditionellerweise in Rechtsschulen auf. Im Christentum ist die Wahrheit personifiziert. Sie zeigt sich im Lebensvollzug Jesu Christi, der von sich sagt, er sei Weg, Wahrheit und Leben (Joh. 14, 6). Die Frage nach der Wahrheit aber ist nicht nur ein religiöses Phänomen. Die Philosophie stellt sich ihr, und die säkulare Weltauffassung beruht auf der Wissenschaft mit ihrem Wahrheitsanspruch. Und diese Moderne hat in Europa und der ganzen Welt tiefe Gewaltspuren hinterlassen.
Religionsvertreter behaupten oft, ihre gewalttätigen Gläubigen würden ihre Religion nicht richtig verstehen. Der Glaube werde politisch instrumentalisiert. Sie müssen sich aber fragen lassen, warum sich Glaube politisch instrumentalisieren lässt. Oder neigt Politik in sich zur Gewalt? Die Moderne mit ihren Nationalstaaten hat aggressiven Nationalismus und Kriege hervorgebracht. Deswegen fordert niemand, Politik sei zu überwinden, wie das bei der Religion gemacht wird. Ungleich wird gemessen. Doch auch die Politik darf nicht zum Sündenbock werden.
Der Ursprung von Gewalt ist in den Blick zu nehmen. Er verschleiert sich gern: Gewalttätig ist der Mensch! Er will sich gegenüber andern behaupten. Er hat ein Aggressionspotenzial in sich, das sich vor allem dann entfaltet, wenn er sich bedroht fühlt. Abwehr von Verletzung und Angst vor dem andern, um nicht zu sagen vor dem Fremden, sind die Quelle von Gewalt. Im Kollektiv muss sie gezähmt und geordnet werden. Der Religionsphilosoph René Girard als Analytiker der Gewalt meint, kollektive Identität werde durch Vereinheitlichung nach innen und durch Ableitung der Aggression gegen aussen geschaffen. Gewalt anwenden muss jene Instanz, die gesellschaftliche Ordnung und kollektive Identität schaffen muss. Traditionellerweise hatte die Religion diese Funktion. Sie hatte öffentlich Gewalt zu regeln, wie dies in vielen Erdteilen bis heute der Fall ist, wo Rechtsstaatlichkeit wenig entwickelt ist.
In der säkularen Gesellschaft hat die Politik diese Funktion übernommen. Der Staat mit seinem Gewaltmonopol hat sich Polizei und Armee geschaffen, übt Gewalt aus. In der globalisierten Welt verschiebt sich die Kontrolle der Gewalt auch zur Wirtschaft hin. Dass die westliche Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung ihre Gewalttätigkeit verbirgt und auf die Religion projiziert, erscheint mir der Kern gegenwärtiger Islamhetze zu sein. Nachdem Christentum und Judentum in den letzten Jahrzehnten in Europa eingelullt und für eigene Zwecke nützlich gemacht worden sind, ist der Islam neuer Gegner. Nehmen wir das Beispiel Irak: Im Namen von westlicher Demokratie und Menschenrechten wird ein politisches System – das alles andere als gerecht war – zerstört. Der Krieg zerrüttete die ganze Gesellschaft. Die Abhängigkeit vom Erdöl, das die arabischen Staaten von innen schon zerfressen hat, ist jedoch der tiefere Grund, warum der riesige Aufwand betrieben wurde, im Irak die Politik mitzubestimmen.
Die westliche Etablierung von Recht ist nicht gelungen. Und wenn in diesem Vakuum Menschen in der Religion Halt suchen und sich im Kampf stärken und radikalisieren, wird der Islam als voraufgeklärt und fundamentalistisch hingestellt. Dass Fundamentalismus aber nicht nur Rückständigkeit bedeutet, sondern von westlicher Politik und Wirtschaft mitproduziert wird, wird übersehen. Weder der Islam noch die Religionen sind einfach gewalttätig. Mit Freud zu sprechen, ist Fundamentalismus Rückkehr verdrängter Religion. Nicht der Islamismus ist zu rechtfertigen, im Gegenteil. Man kann ihn nur bekämpfen. Doch den Islam und die Religionen als in sich gewalttätig zu bezeichnen, heisst Sand in die Augen streuen.
Religionen haben viel Positives zur Entwicklung der Kulturen beigetragen, wie auch Politik und Wirtschaft. In allen drei Bereichen ergaben sich auch unsägliche Entgleisungen. Vor allem Religion muss Ethischeres liefern. Und dennoch: Sie darf nicht mehr als Politik oder Wirtschaft angeklagt werden. Der Mensch hat Verantwortung zu übernehmen. Schuld ist nicht abzuschieben. Wurde in der Theodizee-Frage einst Gott auf die Anklagebank gesetzt und hatte sich zu verteidigen, warum die Welt nicht besser ist, so werden heute, nach dem Tod Gottes, die Religionen zur Rechenschaft gezogen. Doch die Anthropodizee-Frage muss gestellt werden: Warum, Mensch, bist du so gewalttätig? Kannst du die Verantwortung übernehmen? Auf die Anklagebank gesetzt, braucht der Mensch aber unbedingt einen Verteidiger.
Quelle: www.jesuiten.org